Nicolai Schneider - Touristen

Zum aktuellen Thema "München" ist Fotodesign Student Nicolai Schneider für uns losgezogen und hat den alltäglichen Wahnsinn in der Münchner Innenstadt festgehalten. 

 

Mit seinen Fotografien hat Nicolai genau die Momente mit viel Scharm festgehalten, die uns amüsieren, uns ärgern, uns schmunzeln lassen. Wenn wir einfach nur schnell von A nach B kommen wollen, aber immer wieder in komplizierten Ausweichmanövern darauf achten müssen, keinen der unzähligen Touristen anzurempeln und dabei eines der, mit Stasssteinen besetzten pinken iPads versehentlich durch die Luft zu schleudern.

Nicolai hat, dazu passend, eine Textpassage aus dem Buch "Über Fotografie" von Susan Sontag gefunden, die wir hier an dieser Stelle zitieren wollen:

"Als Mittel zur Beglaubigung von Erfahrung verwandt, bedeutet das Fotografieren aber auch eine Form der Verweigerung von Erfahrung - indem diese auf die Suche nach fotogenen Gegenständen beschränkt wird, indem man Erfahrung in ein Abbild, ein Souvenir, verwandelt. Reisen wird zu einer Strategie, die darauf abzielt, möglichst viele Fotos zu machen. Allein schon das Hantieren mit der Kamera ist beruhigend und mildert das Gefühl der Desorientierung, das durch Reisen oft verschärft wird. Die meisten Touristen fühlen sich genötigt, die Kamera zwischen sich und alles Ungewöhnliche zu schieben, das ihnen begegnet. Nicht wissend, wie sie sonst reagieren sollten, machen sie eine Aufnahme. So wird Erfahrung in eine feste Form gebracht: stehenbleiben, knipsen, weitergehen. Diese Methode kommt insbesondere jenen Touristen entgegen, die zu Hause einer erbarmungslosen Arbeitsethik unterworfen sind - den Deutschen, Japanern, Amerikanern. Die Handhabung einer Kamera dämpft die innere Unruhe, die ständig unter Streß arbeitende Menschen empfinden, wenn sie Urlaub machen und sich nur amüsieren sollen. Aber nun haben sie »etwas zu tun«, das auf angenehme Weise an Arbeit erinnert: sie dürfen fotografieren. Menschen, die ihrer Vergangenheit beraubt sind, scheinen die eifrigsten Fotonarren zu sein, zu Hause und in der Fremde. Jeder, der in einer Industriegesellschaft lebt, wird allmählich dazu gezwungen, mit der Vergangenheit zu brechen; in einigen Ländern aber – etwa in Japan und den Vereinigten Staaten - hat dieser Bruch starkes Trauma ausgelöst. In den frühen siebziger Jahren unseres Jahrhunderts wurde die legendäre Figur des forschen, mit Dollars und Spießigkeit gesegneten amerikanischen Touristen der fünfziger und sechziger Jahre von der rätselhaften Erscheinung des meist in Gruppen auftretenden japanischen Touristen abgelöst, der, dank der erstaunlichen Überbewertung des Yen jüngst aus seinem Inselgefängnis entlassen, meist mit zwei Kameras bewaffnet ist, an jeder Hüfte eine."

Fischer Taschenbuch Verlag, Über Fotografie, Susan Sontag, 19. Auflage: Februar 2010